Die Tessiner Gemüseproduzenten kämpfen mit dem sich ändernden Marktumfeld, bei dem tiefe Preise und Regionalität im Vordergrund stehen. Mit Strukturanpassungen und mehr Professionalität wollen sie sich Marktanteile zurückholen.
Tessin und Tomaten? In den Köpfen vieler gehört das zwar immer noch irgendwie untrennbar zusammen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Kaum jemand sehnt sich in der Nordschweiz heute wie früher nach den ersten frischen Tomaten aus der Sonnenstube im Süden. Die ersten einheimischen Tomaten gibt es bereits im April aus den geheizten Gewächshäusern der übrigen Schweiz. Vom temperaturbedingten Saisonvorsprung gegenüber dem Rest der Schweiz profitieren die Tessiner Gemüseproduzenten heute kaum mehr. Die Saisonalität existiert im Verkaufsregal faktisch nicht mehr. Dazu kommt der Trend nach regionalen Labeln. Hier fällt das Tessin wegen seiner geografischen Abgeschiedenheit zwischen Stuhl und Bank. Eine schwierige Situation für eine Branche, die über 60 Prozent der Produktion im Norden der Schweiz verkauft. Und dort herrscht seit ein paar Jahren ein Preiskampf, der den relativ kleinen Betriebsstrukturen in der Tessiner Gemüsebranche wenig bekömmlich ist.
Zersiedelung greift um sich
Ein wichtiger Teil des Tessiner Gemüsebaus findet in der Magadino-Ebene statt, ein ehemaliges Sumpfgebiet und ideal für den Gemüsebau. Doch die Region bezahlt den Preis der wirtschaftlichen Entwicklung, die in den letzten Jahren hier stattgefunden hat. Auf der Hauptstrasse zwischen Locarno und Bellinzona sind Staus alltäglich. Die Zersiedelung ist weit fortgeschritten, die Dörfer verfliessen ineinander. Zwischen Strassen, Einkaufszentren, Campingplätzen und Einfamilienhäusern wächst aber immer noch Gemüse. Doch der einstige Gemüsegarten der Schweiz schrumpft: Die Anbauflächen sind in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
Angebotsbündelung weit fortgeschritten
In Cadenazzo befindet sich das logistische Zentrum des Tessiner Gemüsebaus. Vor 75 Jahren gründeten Tessiner Gemüseproduzenten die Genossenschaft Federazione Orto-Frutticola Ticinese (Foft) mit dem Ziel, das Angebot zu bündeln und so für Abnehmer interessanter zu sein. Zu diesem Gedanken passt das vor drei Jahren von der Foft eröffnete 5000 m2 grosse Gebäude mit Verarbeitungs- und Lagerräumen. 45 Gemüseproduzenten lassen ihre Ware heute über die Foft vermarkten. Das entspreche über 80 Prozent des Tessiner Gemüses, sagt Foft-Direktor Paolo Bassetti. Diese an und für sich hohe Angebotsbündelung alleine reiche aber nicht aus. «Wir müssen noch effizienter werden». Die Produktionsplanung soll noch verbessert werden. Es gebe immer noch Produzenten, die ihre Ware unangemeldet anliefern würden, so Bassetti. Man sei daran, eine Software zu etablieren, bei der die Produzenten ihre Mengen per Internet anmelden könnten. Keine einfache Aufgabe bei der heterogenen Zusammensetzung der Genossenschafter: Vom modernen Grossbetrieb mit einem hohen Gewächshausflächenanteil über kleine nur saisonal arbeitende Freilandbetriebe mit niedrigen Tunnels ist alles dabei.
Die Tessiner hadern mit den tieferen Preisen als Folge des verschärften Wettbewerbs. Dazu kommen die genannten regionalen Vermarktungsprogramme, wo die Tessiner Produktion als Verlierer dasteht. «Uns bleibt auf den wichtigen Absatzmärkten im Mittelland oft nur die Rolle des Lückenbüssers», sagt Bassetti. Trotzdem glaubt er an die Zukunft von Tessiner Gemüse. Seine Rezepte: Die Strukturen auf den Betrieben müssten angepasst werden und mehr Professionalität sei nötig. Ein erster Schritt in diese Richtung sind die in den letzten Jahren gebauten Gewächshäuser in einer extra dafür ausgeschiedenen Zone in Giubiasco. Doch sonst steht der Entwicklung im Tessin immer noch oft die Raumplanungsbehörde im Weg.
Direktvermarktung im Tessin
Im Foft-Gebäude hat sich Biogemüseproduzent Renzo Cattori eingemietet, wo er und sein Sohn mit der Linea Bio Verde einen grossen Teil des Tessiner Biogemüses und andere Bioprodukte vermarktet. Auf seinem ganz in der Nähe gelegenen Betrieb führt Cattori einen Hofladen. Das Produktesortiment auf seinen eigenen 10 Hektaren ist beachtlich. Es reicht von rotem Mini-Romana, Salanova-Salaten, Pro Specie Rara Gemüse wie Forellenschluss bei den Salaten oder Baselbieter Röteli bei den Tomaten bis zu Basilikum und Zuckermais. Sorgen bereiten auch ihm die Preise: «Die grossen Abnehmer verlangen, dass sich die Preise von Bio denen der konventionellen annähern». Das sei mit dem zusätzlichen Aufwand und den tieferen Erträgen aber nicht möglich, sagt Cattori. Er sucht deshalb den direkten Kontakt zur Kundschaft: «Ich will möglichst viel im Tessin verkaufen.» Dazu passt auch die von ihm ins Leben gerufene «ConProBio», eine Kooperation zwischen Konsumenten und Produzenten, die einen Jahresumsatz von rund drei Millionen Franken erzielt. «Wir beliefern über 1000 Familien regelmässig mit Ware», sagt Cattori.
Junge kommen nach
Ein paar Kilometer weiter südlich in Quartino ist Manuela Meier zu Hause. Die junge Gemüseproduzentin hat von ihrem Vater kürzlich den sieben Hektaren grossen Betrieb übernommen. Neben der Produktion führt sie im Auftrag der Associazione Orticoltori Ticinese (Orti) verschiedene Sortenversuche bei Tomaten, Gurken, Auberginen oder im Freiland Blumenkohl durch. Mit besseren Sorten will sie die Chancen der Tessiner Gemüseproduktion auf dem Markt verbessern. Sie ist überzeugt, das gerade bei den Tomaten bei der Sortenwahl der Geschmack wieder eine grössere Rolle spielen müsse. Viele in der Branche sehen in Spezialitäten eine Chance für das Tessiner Gemüse.
Alte Strukturen optimal nutzen
Mit sechs Hektaren gedeckter Fläche und 34 Hektaren im Freiland gehört Marco Bassi zu den grössten Gemüseproduzenten im Tessin und ist zudem Präsident der Foft. Im modernen 2005 eröffneten 2,5 Hektaren grossen Gewächshaus wachsen vor allem Rispentomaten. Er war der erste in der Schweiz mit vollautomatischen elektrischen Transportwagen. Für Bassi muss aber nicht alles was gut ist, neu sein: Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, aus alten Strukturen das Optimum herauszuholen. Beispielsweise mit der Erhöhung von bestehenden alten Gewächshäusern um zwei Meter. «Eine pragmatische Lösung, die sich aber auszahlt», sagt Bassi. In der Produktion ist er zudem offen für Neues: Mit der süssen Tomatensorte Kumato von Syngenta hat er seit acht Jahren eine Spezialität im Angebot. Eine andere sind kleine Wassermelonen im Freiland, die als Swiss Melody vermarktet werden. Beide sind selbst bei ihm auf dem Betrieb nur Nischenprodukte. Einen Teil der Tomaten verarbeitet er zu speziellen Tomatensaucen, die er vor allem im Kanton selbst vermarktet. Im Gewächshaus hat er jüngst mit dem Anbau von Babyleaf im Tessin Neuland betreten. Zu seiner Palette gehört zudem Rollrasen, den er vor allem für den Gartenbau produziert. Ein Hotel, ein Agroturismo und der eigene Hofladen stehen für die Umtriebigkeit von Bassi.
Qualität bewahren und Kosten senken
Die drei genannten Beispiele von Betrieben deuten auf die heterogene Zusammensetzung in der Tessiner Gemüsebranche hin. Die Tessiner Gemüseproduktion befindet sich auf einer Gratwanderung zwischen Bewahrung einer gewissen Vielfalt und der Anpassung der Kosten. Dazu ändern die äusseren Bedingungen: Die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht sind grösser geworden, extreme Niederschläge sowie längere trockene Phasen haben zugenommen. Trotzdem dürfte das Wasser mittelfristig nicht zum Problem werden, die Berge rundherum sorgen für stabile Grundwasserverhältnisse. Die dunklen Wolken, die am Himmel aufziehen, sind anderer Art: Obwohl der Bundesrat nun offenbar doch mit einer zweiten Röhre durch den Gotthard plant, steht die mehrjährige Schliessung des Gotthardtunnels in ein paar Jahren immer noch im Raum. Sie würde den Lebensnerv der Gemüseproduktion durchtrennen. Für viele Tessiner Gemüseproduzenten ist deshalb klar, dass es ohne zweite Gotthardröhre nicht gehen wird.
Fakten:
Gemüsebau im Tessin:
- Total Gemüseanbau-Fläche 200 ha (davon ca. 60 ha gedeckt)
- Wichtigste Produkte: Tomaten rund/lose (14.0 ha), Cherry (13.5 ha), Rispentomate (7.8 ha), Peretti (5.6 ha), Fleischtomaten (3 ha), Zucchetti (50 ha), Nüsslisalat (18 ha), Auberginen (6,0 ha), Salate für Frischmarkt und Verarbeitung.
- 60 Betriebe (davon 6 Bio)
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