Im Tomatenhaus von Gemüsegärtner Beat Bösiger ist die Digitalisierung längstens angekommen. Im Geschäftsalltag sind aber immer noch menschliche Erfahrung und Bauchgefühl gefragt.
Beat Bösiger könnte in Rio am Strand liegen und wüsste trotzdem, wo seine Lastwagen gerade unterwegs sind oder wenn ein Bewässerungsschlauch im Gewächshaus geplatzt ist. Über das Mobiltelefon hat er Zugriff zu allen relevanten Daten seines Gemüsebaubetriebs: Vom Anbauplan der Kulturen, den Klimacomputer des Gewächshauses über die Buchhaltung bis zu den gerade geernteten Tagesmengen. 16 Kameras liefern zudem permanent aktuelle Bilder auf sein Telefon. Er macht während der Hauptsaison trotzdem keine Ferien. In dieser Zeit brauche es bei aller Automatisierung viel menschliches Know-how und Erfahrung, sagt der Gemüsegärtner aus Niederbipp. Der Besuch im Tomatengewächshaus zeigt, dass die Digitalisierung dort längstens angekommen ist.
Achtung Geisterfahrzeug
«Danger, AUTOMATED GUIDED VEHICLES» steht im Gang des Gewächshauses. Das Tor öffnet sich automatisch, der Wagen mit den gefüllten Tomatenkisten surrt wie von Geisterhand gesteuert auf im Boden eingelassenen Schienen an uns vorbei zur Abpackstation. Dort entlädt ein Roboter die Tomaten, die nun von zwei Leuten auf ihre Qualität überprüft werden ehe sie wieder von einem anderen Roboter auf eine Palette verladen werden für den Weitertransport. Weshalb braucht es hier überhaupt noch die Augen von zwei Leuten? «Bei den Tomaten, die an den Rispen verkauft werden gibt es noch keine taugliche maschinelle Lösung», erklärt Bösiger. Bei den losen runden Tomaten aber schon. Diese Maschine steht in einem anderen Gebäude und ist mit Sensoren ausgerüstet, die Farbe und Gewicht der Tomaten erkennen und sie entsprechend sortieren. Doch in dieser Halle fährt der leere führerlose Erntewagen nun wieder los, fasst neue Kisten und fährt mit diesen selbständig ins Gewächshaus zurück. Falls Hindernisse im Weg stehen, sorgen übrigens Sensoren dafür, dass das Gefährt automatisch stehenbleibt. Bösiger lacht: «Hier muss niemand Angst haben, von einem Erntewagen überfahren zu werden.»
Eigene Wetterstation liefert Informationen
Die Tomatenstauden sind jetzt in der Hauptsaison im Juli voll behangen. Sie wachsen in einem Substrat aus Kokosfasern, das mit einem Bewässerungsschlauch verbunden ist. Mit dem Wasser wird gleichzeitig der Dünger verabreicht. Ob und wie viel es davon braucht entscheidet der Computer automatisch aufgrund der im Bewässerungswasser gemessenen Werte. Die Bewässerungsdosis ist vom Wetter abhängig. An einem Sonnentag braucht es mehr als an einem Regentag. Die eigene Wetterstation misst deshalb die Anzahl Sonnenstunden sowie die Strahlung und gibt dem System Bescheid, wenn es mehr Wasser braucht. Das System funktioniere eigentlich ganz gut, sagt Bösiger. Dass die menschliche Kontrolle aber immer noch nötig ist, zeigt der Blick ins benachbarte Haus mit den Gurken, wo die etwas welken Blätter darauf hinweisen, dass der Computer hier wohl nicht ganz die richtigen Daten übermittelt hat. Doch der für diese Kulturen verantwortliche Sohn Philipp steht bereits vor den Pflanzen – mit dem Handy in der Hand. Der Fehler ist schnell korrigiert. Unabhängig davon versprüht die Beneblungsanlage mit ihren Hochdruckdüsen gerade eine Menge Nebel ab, offenbar weil das System eine zu tiefe Luftfeuchtigkeit festgestellt hat. Die Abkühlung tut gut. Bis zu 1000 Liter Wasser würden hier an einem heissen Tag wie heute versprüht, sagt Bösiger. Ein optimal eingestelltes Klima wirkt sich positiv auf die Pflanzengesundheit aus: Ist es
dauernd zu feucht gibt es Probleme mit Pilzkrankheiten. Bei zu trockenen Bedingungen werden Schädlinge zum Thema, die hier übrigens vorwiegend ohne Chemie mit Nützlingen bekämpft werden. Im Gewächshaus den Ausgleich und die passenden klimatischen Bedingungen zu schaffen ist die wahre Herausforderung, der Klimacomputer spielt hier eine entscheidende Rolle. Doch auch dieser interpretiert nicht immer alles so optimal, wie es sollte. Gibt es grobe technische Probleme, geht auf dem Mobiltelefon von Beat Bösiger der Alarm los. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser und diese führt immer noch der Mensch durch.
Die «gläserne» Tomate
Obwohl hier in Niederbipp bereits viele Arbeitsschritte automatisiert wurden, braucht es immer noch viele Arbeiterinnen und Arbeiter aus Fleisch und Blut. 180 sind es während der Saison, die auf den über 150 Hektaren im Freiland und in den 10 Hektaren Gewächshäusern arbeiten. Diese Menge muss gemanagt werden. An jeder Tomatenreihe steht beispielsweise ein Erfassungsgerät, wo die Arbeiterin oder der Arbeiter ihren persönlichen Batch hinhalten und den gerade auszuführenden Arbeitsschritt eingeben müssen – beispielsweise Tomaten aufbinden, Nützlinge verteilen, Blätter schneiden oder gerade jetzt natürlich besonders aktuell die Erntearbeiten. Und die Zahlen lügen nicht: Ernteleistungen die vom Mittelwert krass nach unten abweichen werden sofort erkannt. Und wenn Fehler passieren ist der Schuldige auch schnell entlarvt. Beat Bösiger sieht in dieser systematischen Zeiterfassung aber weniger ein Kontroll- als viel mehr ein Optimierungsinstrument: «Ich kann die Leute dort einsetzen, wo sie die beste Leistung bringen.» Doch nicht nur über die Arbeiter selbst werden viele Informationen gesammelt. Auch das Leben der Tomaten ist gut dokumentiert. Diese «gläserne» Tomate dient nicht nur der Betriebsoptimierung sondern wird von den Abnehmern heute vorausgesetzt. Ohne die garantierte Rückverfolgbarkeit darf heute kein Gemüseproduzent Ware liefern. Vor dreissig Jahren stellte Bösiger bei Migros am Morgen seine Kopfsalate einfach in den Holzharassen auf die Rampe. «Niemand bei der Annahme wusste damals wirklich, welcher Salat zu welchem Gemüsegärtner gehörte», sagt Bösiger. Diese Zeiten sind vorbei.
Dem Computer fehlt das Gefühl
Im Büro laufen alle elektronischen Informationen zusammen. Auch das Bestellwesen mit den Abnehmern wird vorwiegend über den Computer abgewickelt, die Rüstscheine werden aus dem System aufgrund der Bestellungen automatisch zusammengestellt aber noch auf Papier ausgedruckt. «Die Tomaten im Haus sind übrigens sehr rot», sagt Bösiger im Büro zu seinem Verkaufsleiter Hans Affolter. Dieser weiss, was das bedeutet: Diese Tomaten müssen möglichst schnell geerntet und verkauft werden. Noch gibt es keinen Roboter, der zuverlässig beurteilen kann, wie es um den Reifegrad von Gemüse steht. Bei Bösiger reicht dafür oft schon nur ein kurzer Blick auf die Kultur aus. Einem Computer fehlt es hier am nötigen Gefühl und an der Erfahrung. Der Gemüsegärtner hingegen hat bereits das Wetter der kommenden Tage im Kopf und kombiniert dieses blitzschnell mit dem aktuellen Entwicklungsstand der Kulturen. «Wir automatisieren, wo möglich, um effizient arbeiten und am Markt bestehen zu können», sagt Bösiger. Für Erfolg oder Misserfolg sei aber immer noch er selbst verantwortlich.
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