Im letzten Jahr wurde das global auftretende äusserst schädliche Jordan-Virus erstmals in einem Schweizer Gewächshaus nachgewiesen. Der Betrieb wurde sofort gesperrt. In der Branche rechnet man mit einer weiteren Verbreitung des Virus.
Währendem die Bevölkerung auf ein baldiges Ende der Corona-Pandemie hofft, bereiten sich die Tomatenproduzenten auf den nächsten Virus vor. Der Mensch ist davon für einmal zwar nicht betroffen, zumindest nicht direkt. Doch im schlimmsten Fall steht ein Teil der einheimischen Tomatenproduktion auf dem Spiel. Seit letztem Jahr ist nämlich klar: Das weltweit gefürchtete Jordan-Virus ist definitiv in der Schweiz angekommen. Dieses befällt vor allem Tomaten und Peperoni und führt dort zu grossen Schäden. Das Virus überträgt sich extrem leicht und verbreitet sich rasend schnell, ist äusserst widerstandsfähig und lässt sich nur mit grossem Aufwand überhaupt wieder aus betroffenen Gewächshäusern entfernen. Wer bei einem Befall nichts unternimmt, kann die Tomatenproduktion in den folgenden Jahren vergessen. Das in Fachkreisen Tomato Brown Rugose Fruit Virus (ToBRFV) genannte Virus ist gemäss Pflanzengesundheitsverordnung als sogenannter potentieller Quarantäneorganismus gelistet und somit melde- und bekämpfungspflichtig. Das gilt nur schon für den Verdacht wie im Fall des Thurgauer Betriebs, auf dem im letzten Sommer zum ersten Mal in der Schweiz Tomaten positiv getestet wurden. Dem betroffenen Gemüsegärtner fielen leichte Verfärbungen an den Tomaten auf. Für den betroffenen Gemüsegärtner hiess das nach der Meldung: sofortige Sperrung des Betriebs durch die Behörden. Der kantonalen Pflanzenschutzdienst übernahm den Lead gemäss offiziellem Jordan-Virus-Notfallplan des eidgenössischen Pflanzenschutzdienstes (EPSD). Im Kanton Thurgau ist das Florian Sandrini.
Ausbreitung des Virus verhindern
Bei offiziell verfügter Quarantäne wird der Zutritt für Mitarbeitende sofort auf ein Minimum reduziert, nichts darf mehr rein oder raus. Spätestens ab dem positiven ausgefallen PCR-Test zählt jede Minute. «Es soll verhindert werden, dass infiziertes Material den Betrieb verlässt und sich das Virus weiter ausbreitet», erklärt Florian Sandrini. Was in einem solchen Moment auf den Betriebsleiter zukomme, sei vor allem auch psychisch belastend. Deshalb wurde die Identität des Betriebes bewusst nicht preisgegeben. Auch um zu verhindern, dass nicht plötzlich Medienschaffende auf dem Betrieb herumstehen und die Arbeiten behindern, sagt Sandrini. Und diese sind in der ersten besonders Phase intensiv: So müssen schnell mögliche Eintrittswege des Virus ins Gewächshaus gesucht werden. Vor allem der obligatorische Pflanzenpass ist hier wichtig, mit dem die Herkunft der Setzlinge oder von Saatgut eindeutig identifiziert und andere Gemüsebetriebe über eine mögliche Gefahr informiert werden können. Da der Virus in den Haupt-Lieferländern Deutschland und vor allem in Holland bereits breitflächig nachgewiesen wurde, wird das Risiko der Übertragung über Jungpflanzen besonders hoch eingeschätzt. Doch die Übertragungswege sind beim Jordan-Virus äusserst vielfältig: Die vermeintlich offensichtlichen führen über Jungpflanzen, Saatgut, Bewässerung, Gemüsekisten oder Werkzeuge. Doch selbst ein Sandwich eines Mitarbeiters mit einer infizierten Tomate kann reichen. Als Wirtspflanze gilt zudem Tabak, weshalb sogar ein achtlos weggeworfener Zigarettenstummel zum Problem werden kann. Erfahrungen von befallen Betrieben im Ausland zeigen, dass die ursprüngliche Infektionsquelle meistens nicht mehr eindeutig eruiert werden kann. Das gilt auch für den betroffenen Thurgauer Betrieb. Oft wird der Befall zu spät erkannt, auch weil die Symptome nicht eindeutig erkennbar sind.
Desinfektionsschaum im Gewächshaus
Ebenfalls möglichst schnell eruierte Florian Sandrini mögliche Ausbreitungswege von verseuchtem Material beispielsweise über Transporte. Weitere potenzielle Infektionsherde in der Umgebung wurden mit Proben ausgeschlossen. Dann folgte schliesslich die finale Tilgung des Virus. Und das ist richtig aufwändig: Der ganze befallene Pflanzenbestand muss abgeräumt und in einer Kehrichtverbrennungsanlage entsorgt werden. Die dafür verwendeten Container müssen nach Gebrauch vollständig desinfiziert werden. Einmal geleert wird das Gewächshaus inklusive aller Geräte mehrmals mit einem Desinfektionsmittel eingeschäumt. Dabei sind Hors-sol-Anlagen im Vorteil, weil die Pflanzen nicht im Boden wachsen, sondern in einer Kokos- oder Steinwollenmatte, die relativ leicht entsorgt werden können. Schwieriger wird es für Biobetriebe mit den dort gemäss Richtlinien obligatorischen Bodenkulturen. Experten gehen nämlich davon aus, dass der Jordan-Virus bis zu fünfzig Jahre im Boden überleben kann. Erst wenn alle Proben im betroffenen Gewächshaus nachhaltig negativ ausfallen, dürfen wieder Tomaten angebaut werden. Sandrini rechnet damit, dass der Thurgauer Betrieb ab Februar wieder in die Produktion einsteigen darf. Ein Teil der hohen Kosten für die Reinigung, Entsorgung sowie die Aufwände des Pflanzenschutzdienstes werden vom Bund und Kanton getragen. Für den Erwerbsausfall kommt der Staat ebenfalls teilweise auf, die Höhe variiert allerdings zwischen den Kantonen. Wie hoch dieser im Thurgauer Fall sein wird, kann Sandrini nicht sagen, da die Sache noch nicht abgeschlossen ist. Klar ist: ein beträchtlicher Teil bleibt bei den Betrieben hängen. Und das macht vielen in der Branche Angst. Auch weil sie nun beim Thurgauer Kollegen erstmals gesehen haben, was ein Jordan-Virus-Befall wirklich bedeutet.
Prävention ist alles
Obwohl erste gegen das Jordan-Virus resistente Tomatensorten bereits verfügbar sind und auch an einer Impfung geforscht wird, bleiben den Gemüseproduzenten im Moment vor allem präventive Massnahmen, um den Eintritt des Virus ins Gewächshaus zu verhindern. Dazu gehören nicht nur strenge Zugangsbestimmungen oder regelmässiges Testen von Pflanzen, sondern auch das konsequente Tragen von Schutzkleidung und vor allem das Reinigen von Werkzeugen wie beispielsweise den Erntemessern. Letztere müssen mehrere Minuten in der Desinfektionslösung getunkt werden, um den Virus abzutöten. Das alles erfordert viel Disziplin der Mitarbeitenden. Eine kleine Unaufmerksamkeit reicht, und das Desaster ist angerichtet. Der Bund lässt zudem für die Früherkennung ein Monitoring durchführen, in dessen Rahmen Fachleute in Schutzanzügen präventiv Proben in Gewächshäusern in allen Regionen der Schweiz nehmen. Allerdings erinnert das an die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen, auch weil häufig keine Symptome sichtbar sind und es daher reine Glückssache ist, den Erreger ausfindig zu machen. Es stellt sich die Frage, ob sich dieser Aufwand überhaupt lohnt. Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) findet: ja. Da der Virus in der Schweiz erst einmal aufgetreten sei, seien die Kriterien für eine Regulierung nach wie vor gegeben und die amtliche Bekämpfung lohne sich, um grossen Schäden in der Tomatenproduktion vorzubeugen, teilt Mediensprecherin Florie Marion auf Anfrage mit. In der Branche ist man sich aber einig: es ist nicht die Frage ob, sondern wann sich das Jordan-Virus in der Schweiz endgültig ausbreitet. Trotz aller Prävention.
Existenzen stehen auf dem Spiel
Obwohl sich der Virus mit den nötigen Vorsichtsmassnahmen einigermassen im Zaum halten lässt, kann es letztlich also jeden Gemüsegärtner treffen. Klar ist, dass es in einem modernen auf den Tomatenanbau spezialisierten Gewächshaus schnell um mehrere Millionen Franken geht, nur schon durch den Erwerbsausfall. Der Verband Schweizer Gemüseproduzenten (VSGP) befürwortet und unterstützt die vorgeschriebenen Massnahmen des Bundes. «Die Tomatenproduzenten sich einig, dass alles unternommen werden muss, den Virus zu bekämpfen», sagt Michael Amstalden vom VSGP. Trotzdem sei man der Meinung, dass die drastischen Massnahmen gut überlegt sein sollen. Beispielsweise wenn die Vernichtung der Hummelvölker auf dem Betrieb verordnet wird. «Da läuft dann vorläufig nichts mehr mit der Bestäubung». Dabei könnte ein Teil der Ernte durchaus noch verkauft werden, wenn sie in einem nicht betroffenen Abteil wachsen. Und es gibt Sorten, die deutlich weniger betroffen sind, beispielsweise Cherry-Tomaten. Gemäss rechtlichen EU-Grundlagen – und diesen unterliegt in der Causa Jordan-Virus auch die Schweiz im Rahmen der bilateralen Agrarabkommen –, dürfen Tomaten von betroffenen Betrieben unter bestimmten Voraussetzungen vermarktet werden. Das wird beispielsweise in Holland offenbar bereits im grossen Stil gemacht, um den Betrieben das Überleben zu ermöglichen. Dort sind über 500 Hektaren Gewächshausflächen betroffen. Auch im Kanton Thurgau gelangten nicht symptomatischen Tomaten aus den nicht befallenen Abteilen des Gewächshauses im Kanton Thurgau in die Verkaufsläden, nachdem sichergestellt worden war, dass durch die Transportwege keine Gefahr für andere Produktionsbetriebe bestand. Gemäss BLW gehe gemäss aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen nur ein minimales Risiko von diesen Früchten aus. Diese Möglichkeit sei wichtig, findet Michael Amstalden: «Betroffene Produzenten können so wenigstens einen Teil der immensen Kosten durch den Ertragsausfall etwas mindern». Denn unter den Gemüsegärtnern gebe es Bedenken, ob die staatlichen Mittel mittelfristig ausreichen, um die Erwerbsausfälle nur schon teilweise zu decken. Privat versichern lässt sich das Ganze seit diesem Jahr nicht mehr. AXA Winterthur hat sich aus dem Geschäftsfeld Tierseuchen und Pflanzenkrankheiten verabschiedet, weil ihr das Risiko offenbar zu hoch war. Bei der Gartenbau-Versicherung der Schweizer Hagel ist ein entsprechendes Angebot zurzeit sistiert.
Die ersten Tomaten in den Gewächshäusern sind gepflanzt, viele hermetisch abgeriegelt von der Aussenwelt. Einige experimentieren bereits mit Jordan-Virus-resistenten Sorten. Auf diesen beruhen letztlich die Hoffnungen. Bis es wirklich soweit ist, gilt es nun, die nächsten Jahre möglichst unbeschadet zu überstehen.
Jordan-Virus Das Tomato Brown Rugose Fruit Virus (ToBRFV) wurde erstmals im Jahr 2014 in Israel nachgewiesen, deshalb wird es auch Jordan-Virus genannt. Seither breitet es sich weltweit aus. Es zählt zu den für Pflanzen besonders gefährlichen Tobamo-Viren. Für den Menschen besteht keine Gefahr. Das Jordan-Virus führt vor allem in Tomatenkulturen zu Totalausfällen, falls es nicht eliminiert wird. Es ist höchst agressiv und bleibt selbst verdünnt noch stark ansteckend. Es überlebt Temperaturen bis zu 90 Grad und soll auch nach 50 Jahren in getrocknetem Pflanzensaft noch infektiös sein. Übertragen wird es über Jungpflanzen, Saatgut, Arbeitsgeräte wie Messer oder Scheren, Transportkisten sowie Hände, Kleidung oder Haare. www.jordanvirus.agroscope.ch |
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